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(c) P.Copper, Drahtlos

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4.3 Magnetfahrzeuge

Drahtlos hatte offenbar wesentlich ehrgeizigere Ziele als den Bau eines Einpunkt-Thermometers. Seine Aufzeichnungen wurden gegen Ende immer phantastischer. Es ging meistens um Luftfahrzeuge, und es sah so aus, als sollten sie auf dem Magnetfeld der Erde schweben. Es gab offensichtlich auch noch weitere Fortschritte in der Erzeugung der Supraleiter selbst, denn ich fand hin und wieder Hinweise auf noch höhere Sprungtemperaturen, wobei der Rekord bei 27 Grad lag. Leider habe ich keine Proben davon gesehen. Die ganze Sache wurde immer perfekter, blieb aber offenbar immer noch das Geheimnis des Ingenieurs. Meines Erachtens hätte er spätestens an dieser Stelle an die Öffentlichkeit gehen müssen. Auch eine Patentanmeldung wäre dringend nötig gewesen, zumal es mit seinen Finanzen nicht besonders gut stand. Oder er hätte sich einen leistungsfähigen Partner suchen sollen, der in der Lage war, die Erfindung zu vermarkten. Drahtlos tat nichts von alledem. Warum, das konnte ich nicht erkennen. Vielleicht war er ja inzwischen schon dermaßen zu einem Einzelkämpfer geworden, dass ihm solche Gedanken gar nicht mehr in den Sinn kamen.

Dazu kommt, dass seine Planungen für einen möglichen Einsatz des Supraleiters immer unrealistischer wurden. Eine Zeichnung zeigt offenbar ihn selbst mit einem relativ kleinen Fahrzeug, wie er entlang einer Magnetfeldlinie der Erde aufsteigt. Das ganze schien mir auf Anhieb völlig unrealistisch. Es steckten so viele Fehler in dieser Idee, dass ich mir zuerst nicht vorstellen konnte, dass sie ernst gemeint sein sollte. Vielleicht handelte es sich ja nur um einen Scherz, über den Drahtlos selbst herzlich gelacht hat. Jedenfalls weiß jeder, dass ein Schweben nur in einem inhomogenen Magnetfeld ausreichender Stärke möglich ist. Beim Schneiden einzelner Feldlinien kommt es zu einer Induktion, wobei ein Ringstrom entsteht, der wiederum ein Gegenmagnetfeld erzeugt. Das ganze funktioniert ja letztlich nicht anders als bei der Wirbelstrombremse, die Drahtlos ja schon im ersten Jahr seiner Laufbahn erfolgreich einsetzte. Im Falle des Erdmagnetfelds heißt das, man könnte höchstens mit einem extrem großflächigen Supraleiter einen Effekt erzielen, wenn er quer zu den Feldlinie bewegt würde. Das hieße wiederum, dass es allenfalls möglich wäre, entlang einer Feldlinie herabzugleiten wie auf einer Rodelbahn. Die Fläche müsste aber derart groß sein, dass eine Art Fallschirm die gleiche Wirkung hätte. Völlig ungeklärt ist auch die Frage der Energiebilanz. Ich konnte mir zwar vorstellen, dass man irgendwie von oben nach unten kommt, aber ein Aufstieg erforderte in jedem Fall eine zusätzliche Energiequelle, die nichts mit dem Supraleiter selbst zu tun hatte, jedenfalls konnte ich da keinen Zusammenhang sehen. Es musste also noch ein besonderer Antrieb vorhanden sein, von dem aber in der Zeichnung nichts zu sehen war. Also musste es sich wohl doch um einen Scherz handeln.
Irgend etwas muss aber geplant gewesen sein, denn alles schien sich auf ein ganz bestimmtes Datum zu konzentrieren. Die Aufzeichnungen sind nicht sehr klar, aber an einem ganz bestimmten Tag im August 1970 hatte Drahtlos offenbar ein wichtiges Experiment geplant. Es gab sogar Angaben über den Ort. Im Süden von Essen gibt es ein relativ ausgedehntes Waldgebiet. Hoch über der gestauten Ruhr liegen Reste einer alten Burganlage, der Isenburg, die offensichtlich eine Rolle spielten. Es sah so aus, als sollte dort ein erster konkreter Flugversuch stattfinden, wobei aber völlig unklar ist, ob es sich um eine Art von Modellflug oder um einen bemannten Flug handeln sollte. Nur die Uhrzeit war klar: Exakt 23:30 Uhr. Der Grund war mir nicht einsichtig, vielleicht ging es nur darum, dass der Versuch von niemandem beobachtet werden sollte. Ich habe lange nach Hinweisen gesucht und dabei auch kleinste Spuren verfolgt, ja sogar nach ausradierten Stellen in den Unterlagen gesucht, aber die Sache blieb insgesamt unklar.
Völlig klar ist allerdings eine andere Tatsache. Genau einen Tag vor dem geplanten Versuch kam es bei Krupp-Widia zu einem folgenschweren Unfall. Einer der Sinteröfen explodierte. Die tonnenschwere Stahltür den Ofens durchbrach die Außenmauer des Werksgebäudes und flog quer über die ganze Autobahn A430, um in der Front eines Wohnhauses auf der andern Seite steckenzubleiben. Die Flugbahn war so flach, dass das Geschoss auf seinem Weg noch den Ladeaufbau eines Lastwagen auf der Autobahn durchschlagen konnte. Der LKW hatte zum Glück nur Hühnereier geladen. Es kam in der Folge dieses Unfalls aber dann zu einer spiegelglatten Fahrbahn und zu einer Massenkarambolage mit insgesamt 40 Fahrzeugen. Dass dabei niemand ernstlich verletzt wurde, ist allein der Tatsache zu verdanken, dass die Stadtautobahn völlig überlastet ist und meist nur zähflüssigen Verkehr zulässt.
Die Einzelheiten des Unfalls habe ich übrigens nicht von Drahtlos, sondern aus dem Zeitungsarchiv. Der Ingenieur selbst beschränkte sich auf einen knappen Hinweis, der nur die Tatsache des Unfalls selbst, nicht aber den genauen Hergang, die Folgen oder gar die Ursachen erwähnt. Und das, obwohl er zum Zeitpunkt des Unglücks im Werk war. Es wunderte mich schon nicht mehr, dass Drahtlos ein völliges Desinteresse an einer Analyse der Unfallursachen zeigte, obwohl er doch selbst mindestens mitverantwortlich für die Sinteröfen war.


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