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(c) P.Copper, Drahtlos

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2.7 Der große Knall

Drahtlos ließ sich nicht entmutigen und baute auch noch die Tesla-Anlage. Energie wurde in kleinen Portionen durch eine isoliert aufgehängte Metallkugel zwischen Speicher und Tesla-Spule transportiert. Er löste damit zugleich das Problem der langsamen Energieabgabe wie das der impulsartigen Schwingungsanregung der Teslaspule. Sekundärseitig erreichte er eine Spannung von 500 Volt, die sich mit normalen elektronischen Mitteln gleichrichten, zerhacken und transformieren ließ. Die gesamte Transformationskette sollte einen Wirkungsgrad von 44 Prozent erreichen. Ein Blitz sollte die Energie liefern, um drei Stunden lang eine Leistung von 62 Watt abzugeben.

Die Gesamtanlage war nun fertig. Zahlreiche Zeichnungen belegen die eindrucksvolle Leistung des Ingenieurs. Manche Detaillösung kann einfach nur als genial bezeichnet werden. Beim ersten Studium der Unterlagen konnte ich nur ehrfürchtig staunen. Dass ein einzelner Mann derartige Kreativität besitzen könnte, hätte ich bis dahin nicht geglaubt. Bei der technischen Realisierung half ihm übrigens sein Assistent Siegfried. Nach den ersten erfolgreichen Probeläufen entschied er sich jedoch, Drahtlos zu kündigen, weil er das "Geknalle" nicht ertragen konnte.
Der Entwurf der Anlage war genial. Leider kamen mir bald aber einige Zweifel bezüglich der Betriebssicherheit. So paradox es klingen mag, mir fehlte so etwas wie ein Blitzableiter an der Kondensatoren. Mir erschien es zumindest unvorsichtig, zwar eine Maximalspannung zu gewährleisten, sich aber dann darauf zu verlassen, dass diese niemals überschritten würde. Es könnte doch zumindest ein besonders starker Blitz einschlagen, der die Kondensatoren überladen würde. Genau für diesen Fall hätte es unbedingt einen Überspannungsableiter in Form einer kräftigen Funkenstrecke geben müssen. Die Energie wäre dann wie bei einem normalen Blitzableiter in den Boden gefahren. Das Fehlen dieser Einrichtung zähle ich zu den schwerwiegenderen Versäumnissen des Ingenieurs Drahtlos.
Die Anlage lief aber trotzdem einwandfrei. Drahtlos vermerkte stolz, dass er bei einigermaßen sparsamem Umgang mit Energie fast 22 Prozent seines Bedarfs in den Sommermonaten decken konnte, während Blitze besonders häufig auftraten. Viele Seiten mit Messprotokollen belegen fast jeden Blitz, der eingefangen wurde. Es sind wirklich eindrucksvolle Daten. Fast nie wurde übrigens die zulässige Spannung von 500 000 Volt überschritten. Nur zweimal wurden knapp 600 000 Volt erreicht, also immer noch 200 000 Volt weniger als die voraussichtliche Durchschlagspannung der Kondensatoren. Die Daten schienen dem Ingenieur recht zu geben. Eine mögliche Überlastung schien er nicht zu befürchten.
Ein anderes Problem beschäftigte ihn dagegen sehr. Seine dörflichen Nachbarn fühlten sich offenbar durch die nun vermehrt einschlagenden Blitze stark belästigt. Es war wohl eine Sache der Nerven. Drahtlos argumentierte, dass es gerade sein Blitzkollektor sei, der für die Sicherheit im Dorf sorge. Die abschirmende Wirkung habe mit dazu beigetragen, dass nicht ein einziger Blitz in ein anderes Haus eingeschlagen sei. Ihm wurde entgegengehalten, dass vor dem Beginn seiner Versuche überhaupt nur ein oder zwei Blitze pro Jahr in der Nähe des Dorfes eingeschlagen seinen. Der letzte Treffer eines Hauses liege bereits zwanzig Jahre zurück. Drahtlos führte das Unverständnis seiner Nachbarn auf eine geringe technische Bildung zurück. Er gab nicht auf, seinen Standpunkt zu vertreten. Es gab Bürgerversammlungen und Protestnoten, sowie unangenehme Besuche beim Bürgermeister. Ja sogar den Pfarrer des Dorfes habe man ihm mehrmals geschickt, obwohl doch jeder wusste, dass er nie in die Kirche ging.
Die ganze Sache drohte zu eskalieren. Drahtlos selbst hatte Sorge, dass man ihn aus dem Dorf jagen würde. Er machte sich sogar Gedanken, die Anlage an einem anderen Ort aufzubauen. Geeignet wäre ein hoher Berg wie der Feldberg. Nur leider wusste Drahtlos, dass zwar nicht die Blitze selbst, wohl aber seine Tesla-Anlage dermaßen große Funkstörungen verursachten, dass sie vielerorts zu noch mehr Ärger geführt hätten. Gerade auf dem Feldberg gab es mehrere funktechnische Anlagen, darunter eine große Abhörstation der Amerikaner. Er konnte abschätzen, dass seine Anlage den Betrieb dort unmöglich gemacht hätte. Das war also keine Lösung. Als alles nichts mehr half und die Proteste immer heftiger wurden, tat Drahtlos etwas, was niemand ihm zugetraut hätte: er stellte selbst freiwillig seine Versuche ein. Wie schwer ihm dies fiel, belegen Aufzeichnungen über vorbeiziehende Gewitter und Berechnungen entgangener Energie.
Drahtlos glaubte wohl, dass sich durch sein Zeichen guten Willens die Wogen geglättet hätten. Er schaltete die Anlage deshalb nach zwei Wochen wieder ein, als ein größeres Sommergewitter sich ankündigte. In dieser Nacht kam es dann zu dem folgenschweren Unglück. Drahtlos führte es darauf zurück, dass sofort nach einem erwünschten, also gesteuerten Blitzeinschlag zwei normale, also nicht durch eine Gegenspannung angezogene Blitze in die selbe Anlage einschlugen. Jedenfalls kam es zu einem verheerenden Überschlag in den Kondensatoren. Alle Glasgefäße schmolzen, das Dach wurde abgesprengt. Glühende Splitter setzten insgesamt zwanzig Häuser und Scheunen in Brand. Dünnflüssiges Glas ergoss sich durch Spalten in den Grundmauern auf die Straße. Es war reines Glück, dass in diesem Inferno kein Mensch zu Schaden kam. Der Sachschaden aber, den die Feuerversicherung zahlte, war erheblich. Drahtlos musste das Dorf verlassen. Seine komplette Werkstatt war ebenfalls ein Opfer der Flammen geworden. Nur seine Aufzeichnungen hatte er gerade noch retten können.
Bemerkenswert ist, dass alle Einträge des Ingenieurs über Blitzenergie von einem Tag auf den anderen aufhörten. In den Kladden findet man nicht einmal eine eingehende Fehleranalyse der Katastrophe. Ich habe mich gefragt, wie das zu deuten ist. Hat der Unfall ihm gezeigt, dass das Vorhaben aussichtslos ist und hat er deshalb schlagartig alles Interesse daran verloren? Oder gab es vielleicht zu der Zeit noch anderes Papier, auf das er schrieb? War ihm am Ende gar die ganze Sache so peinlich, dass er sie nicht seinen geliebten Notizbüchern anvertrauen konnte? Mir jedenfalls ging die Sache nicht aus dem Kopf. Ich versuchte, Ausmaß und Hergang der Katastrophe zu rekonstruieren. Ich konnte dabei auf zahlreiche Daten von Drahtlos zurückgreifen, musste aber auch vieles abschätzen. Mein Ansatz war die Berechnung der Energie, die nötig war, um die vorhandene Menge Glas dünnflüssig zu schmelzen. Die Temperatur setzte ich mit etwa 1500 Grad an. Jede Flasche wog etwa 5 Kilogramm, insgesamt war also eine halbe Tonne Glas vorhanden. Daraus ließ sich die benötigte Energie berechnen. Es bleiben noch einige unsichere Faktoren, wie z.B. die Verlustwärme, die sich nach oben durch das Dach entfernt hatte. Setzte ich die Verluste mit 50 Prozent an und ging von der normalen Ladung des Speichers aus, dann erbrachten die Berechnungen allenfalls eine Temperatur von 800 Grad, das heißt, das Glas wäre zwar geschmolzen, es wäre aber nur zähflüssig geworden. Drahtlos hatte also recht, dass wesentlich mehr Energie vorhanden war. Ob allerdings wirklich drei Blitze einschlugen, was extrem unwahrscheinlich ist, oder ob es doch ein einzelner, besonders starker Blitz war, kann nicht mehr mit Sicherheit festgestellt werden.
Für Drahtlos stellte dieses Ereignis einen tragischen Wendepunkt in seiner Karriere dar. Er hatte zum dritten mal alles verloren. Dazu kamen Schulden aus älteren Missgeschicken und allzu geringe Zahlungen aus Patenten oder Beteiligungen. Die beste Einnahmequelle war nach wie vor die Seilbahn im Schwarzwald, an deren Energieerzeugung er beteiligt war. Besonders tragisch ist, dass die erzeugte Energie der Blitzversuche nur etwa 0,27 Prozent der Energie ausmachte, die durch die Seilbahn im gleichen Zeitraum erwirtschaftet wurde, dass sie aber trotzdem die Ursache für seinen endgültigen wirtschaftlichen Ruin waren. Seit dieser Zeit musste Drahtlos nicht-selbständige Arbeit annehmen. Jeder kann nachfühlen, was das für einen bis dahin freiberuflichen Ingenieur und Erfinder bedeutet haben muss.


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