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(c) P.Copper, Drahtlos

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5.5 Siegfried

Ich hatte also nun bereits mehrfach am eigenen Leibe erfahren müssen, dass es nicht ungefährlich ist, auf den Spuren des Ingenieurs Drahtlos zu wandeln. Fast wäre ich verprügelt worden, weil ich seinen Namen nannte, mein Wagen wurde durch unvorsichtige Experimente beschädigt, ein Bauer bedrohte mich mit der Mistgabel. Der Höhepunkt aber war mein Besuch der Wasserberg-Seilbahn, bei dem ich fast ums Leben gekommen wäre. Eigentlich hätte ich nun allen Grund gehabt, mein Interesse an Drahtlos aufzugeben. Aber er ließ mich nicht los. Ich wollte mehr über ihn erfahren, um vielleicht eines Tages doch noch zu verstehen, was für ein Mensch er war.

Ein Name tauchte in den schwarzen Kladden öfter auf: Siegfried S. war anscheinend einige Zeit lang so etwas wie der Assistent des Ingenieurs gewesen. Ich dachte daher, es könnte nicht schaden, ihn einmal aufzusuchen. Die Sache gestaltete sich schwierig, weil sein Nachname nicht gerade selten ist. Ich versuchte es mit dem Telefon. In Bochum traf ich auf eine Frau, die sagte, ihr Mann habe früher öfter von einem Didi Drahtlos erzählt. Er arbeite jetzt als Betriebsleiter in diesem bekannten Handy-Werk in Bochum. Falls ich ihn träfe, solle ich ihm doch bitte ausrichten, wenn er mal irgendwann vor Mitternacht nach Hause käme, wäre er erstaunt, wie groß die Kinder inzwischen seien, sie selbst habe schon längere Zeit keine Gelegenheit mehr zu einem persönlichen Gespräch mit ihrem Mann gehabt.
Ich besuchte also die Fabrik. Der Name Drahtlos öffnete mir tatsächlich die Tür zum Chef. Er trug einen sichtlich teuren Anzug, so dass ich nicht anders konnte, als einen kurzen, verlegenen Blick auf meine ausgetretenen Schuhe zu werfen, ob wenigstens kein Lehm dran klebte. Der Mann war aber ganz locker und tönte gleich los, wie geht es denn dem alten Didi noch, und ich solle ihn herzlich von ihm grüßen. Ich musste kleinlaut zugeben, da liege ein Missverständnis vor, ich kenne Drahtlos nicht persönlich, und er sei außerdem seit Jahren verschollen. "Das sieht ihm ähnlich!" meinte er. "Wenn Sie mich fragen, der Mann hatte immer schon nen Draht los. Hatte die feinsten Erfindungen in der Schublade und war arm wie ne Kirchenmaus. Einmal hab ich zu ihm gesagt: Didi, gib mir eine von deinen drei besten Entwicklungen, dann zeig ich dir in fünf Jahren, wie man damit reich wird. Er meinte nur, such dir eine aus, Siggi. Ich hab dann den dielektrischen Resonator genommen, weil mir gleich klar war, dass der Markt nach höheren Frequenzen schreit. Er wollte tatsächlich nichts dafür haben, ich sollte ihm nur zeigen, wie man erfolgreich wird. Nach drei Jahren hatte ich die erste Million und ein Werk mit 50 Mitarbeitern. Wir waren dann schnell ganz vorn im Bereich drahtlose Kommunikation. Ich habe Didi oft angeboten, er könne als Chefingenieur bei mir anfangen, für ein Top-Gehalt, versteht sich. Aber er wollte immer noch vorher irgendwelche laufenden Projekte zu Ende bringen. Später hat er dann ganz klar gesagt, er hätte keine Lust auf den Stress hier. Dann hab ich ihn irgendwann aus den Augen verloren.
Das mit dem Stress ist natürlich schon irgendwie wahr. Wir sind jetzt mit an der Spitze bei Handys der neuesten Generation. Aber glauben Sie nicht, dass hier irgendeiner ist, der noch den vollen Durchblick hat. Das ganze ist jetzt Teamarbeit der brutalsten Art. Die Software wird eingekauft, VCO-Module fertig aus Taiwan, vollautomatische Platinenproduktion, Entwicklung in drei Abteilungen getrennt nach Baugruppen. Wenn wir hier einen neuen Ingenieur einstellen, darf ich ihm vorher gar nicht sagen, was ihn erwartet. Sieben Jahre Überstunden ohne Ende, danach ist er ausgebrannt. Je nach dem wie er sich gehalten hat, geht es dann ab in den Service oder hoch in die Verwaltung. Inzwischen kriegen wir nur noch mit Schwierigkeiten neue Leute. Wir gehen zum Beispiel direkt in die Fachhochschulen. Wer vor der Diplomprüfung Schiss kriegt, kann gleich ohne Prüfung mit zu uns kommen, das Geld stimmt. Aber wenn mein eigener Sohn mal soweit ist, werd ich ihm sagen, mach dich sofort nach dem Examen selbständig, dann hast du den Stress noch am besten im Griff. Vielleicht war der Didi ja doch nicht so dumm."
"Jedenfalls hat er anscheinend wirklich Spaß an seiner Arbeit gehabt." meinte ich. "Das ist wahr!" sagte er nachdenklich. "Allein die Sprüche immer: Des Ingenieurs Devise, schnell und präzise. Die hab ich alle noch drauf. Hat schon oft die Situation hier entspannt, wenn mal wieder einer aus dem Fenster springen wollte. Und dann immer die sinnlosen Experimente zwischendurch, das war echt Klasse. Seit ich von Drahtlos weg bin, habe ich keinen Lötkolben mehr selbst angefasst. Ich bin noch nicht mal dazu gekommen, mit den eigenen Kindern ein Radio zu bauen. Aber damals haben wir stundenlang irgendwelche Elkos platzen lassen und die Schussweite gemessen." Dann versank er in nachdenkliches Schweigen. Ich sagte auch nichts mehr. Irgendwann kam mal die Sekretärin rein, sah uns erschrocken an und ging ganz still wieder raus.
Der Frieden wurde durch das Telefon gestört. Der Werksleiter war gleich wieder voll da und bellte in den Hörer: "Sucht im Lager, ob wir wenigstens noch tausend Stück aus der alten Produktion haben!" "Schöne Scheiße!" sagte er dann zu mir. "Mit Didis dielektrischen Resonatoren haben wir angefangen. Die Dinger werden jetzt für 14 Pfennig das Stück in Taiwan gebaut. Dafür macht hier nicht mal mehr einer ne Rolle Draht los. Und jetzt auf einmal können die Typen da drüben nicht liefern!" Er war voll im Stress. Ich verabschiedete mich, da fiel mir noch ein, was ich ihm von seiner Frau ausrichten sollte. "Sagen Sie ihr, sonst immer, aber gerade heute geht es wirklich nicht." Ich glaube aber, das hat er nur so automatisch gesagt, in Wirklichkeit war er schon ganz weit weg, vielleicht in Taiwan.
Draußen vor dem Werk musste ich mich erst mal auf eine Bank setzen. So fertig war ich schon lange nicht mehr. Vielleicht muss man die wahren Katastrophen des Ingenieurs Dietrich Drahtlos gerade da suchen, wo technisch gesehen alles einwandfrei läuft. Wenn irgendwo ein halbes Dorf abbrennt, wenn eine einsame Seilbahn umkippt oder wenn ein altes Kohlekraftwerk zu Bruch geht, dann sind das nur die kleinen Katastrophen, von vielen gar nicht bemerkt, irgendwann bezahlt und fast vergessen.


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