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(c) P.Copper, Drahtlos


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4.4 Verschollen

Drahtlos war voll auf seinen Versuch konzentriert. Die abschließenden Berechnungen finden sich auf den beiden hinteren Seiten der letzten Kladde. Die fünfte Kladde war also bis zur letzten Seite gefüllt. Man findet nur einige Berechnungen, aber keine Zeichnungen. Offensichtlich wurden kinetische Energien berechnet, wobei auffällt, das die Masse des betrachteten Gesamtsystems 120 Kilogramm war. Es ging also nicht nur um ein kleines Modell, möglich wäre auch ein bemannter Versuch. Nach wie vor fehlten mir alle Hinweise darauf, wo der Antrieb des Systems liegen sollte. Alle entscheidenden Informationen fehlten. Ganz unten auf der letzten Seite fand ich aber nun den gleichen Eintrag wie ganz vorn in der Kladde Nummer Eins:

Des Ingenieurs Devise:
Schnell und präzise.

Ich muss sagen, der Spruch wirkte an dieser Stelle schockierend endgültig, so als hätte Drahtlos hier ein Ziel erreicht, über das er nicht mehr hinausgehen wollte oder konnte.
Lange habe ich damit zugebracht, zu ergründen, was mit dem Ingenieur Dietrich Drahtlos geschehen ist. Warum verliert sich hier seine Spur? Ist er an sein Ziel gelangt, oder ist er gescheitert? Lebt er noch, und wo könnte er sein? Ich bin dabei zu keinem klaren Ergebnis gelangt. Aber es haben sich vier völlig unterschiedliche Theorien herauskristallisiert, die sich jeweils auf Eintragungen und weitergehende Tatsachen stützen. Eine Entscheidung zwischen diesen Theorien ist mir unmöglich. Ich kann nichts anderes tun, als Ihnen hier alle vier vorzustellen. Vielleicht sind Sie selbst dann in der Lage, sich ein Urteil zu bilden.
Erste Theorie: Der Ingenieur wollte verschwinden.

Die angespannte finanzielle Situation und der letzte große Unfall könnten Drahtlos veranlasst haben, sich abzusetzen und irgendwo anders ein völlig neues Leben zu beginnen. Es ist nicht ganz unmöglich, dass Drahtlos an der letzten Katastrophe eine größere Schuld trifft, als mir bekannt ist. Vielleicht hatte er diesmal mit ernsten Schadensersatzforderungen zu rechnen. Vielleicht ist der Unfall sogar durch grobe Fahrlässigkeit entstanden, ein Verhalten, das man ihm in allen vorigen Fällen nie vorgeworfen hat. All das wäre ein Grund gewesen, das Weite zu suchen.

Es fällt auf, dass Drahtlos nach seiner letzten Katastrophe, anders als in allen vorigen Fällen, seine Notizen nicht mitgenommen hat. Die fünf schwarzen Kladden waren doch sein wertvollster Besitz, warum sonst hätte er sie immer wieder gerettet, während oft sein übriger Besitz verloren ging. Hier nun ging Drahtlos anders vor, er verbarg die Kladden in einer Blechkiste und versteckte sie sorgsam unter dem Fußboden seiner Behausung. Dies kann zweierlei bedeuten, erstens nämlich, dass er die Aufzeichnungen später noch holen wollte, wozu es allerdings länger als zehn Jahre nicht kam. Und zweitens, dass er seine Aufzeichnungen nun nicht mehr brauchte. Die lange Lagerzeit der Kladden spricht eher für die zweite Möglichkeit, es sei denn, der Ingenieur wäre an seinem Vorhaben gehindert worden, zurückzukommen, um die Kladden zu holen.
Nehmen wir einmal an, Drahtlos war der Auffassung, er brauche die Notizbücher nun nicht mehr. Das könnte bedeuten, dass er ein wichtiges Ziel erreicht hatte, vermutlich die Herstellung der Supraleiter. Gerade der letzte Eintrag in den Büchern lässt dies wahrscheinlich erscheinen. Er könnte also mit seiner Erfindung abgereist sein. Dafür spricht, dass ich zwar eine etwas ältere Probe, nicht aber die letzten Ergebnisse seiner Forschung in die Hände bekam. Er könnte also mit den Früchten seiner Arbeit zum Beispiel in ein anderes Land gereist sein. Vielleicht lebt er dort glücklich und zufrieden und hat aufgehört zu arbeiten.
Ich fasse zusammen: Drahtlos wäre nach dieser Theorie aus zwei Gründen verschwunden: erstens, weil er nicht für das Unglück im Widia-Werk geradestehen wollte und zweitens, weil seine Forschungen abgeschlossen waren.
Welche Rolle spielen dann aber die Aufzeichnungen über Feldlinien und sein geplantes Experiment? Ich vermute, es ging hier allein darum, eine falsche Spur zu legen. Sollte etwa die Polizei nach ihm suchen, dann würden sie mit diesen Aufzeichnungen zumindest viel zusätzliche Arbeit haben.


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