Start Vorwort Inhalt Neues Leserbriefe

Kurzgeschichte


Dipl.-Ing. P. Strohm

Drahtlos war schon da

Es fing eigentlich alles ganz harmlos an. Eines Morgens kamen wir ins Labor und bemerkten einen seltsamen Geruch. Ein Schaltnetzteil, das wir in einem Langzeittest über Nacht angelassen hatten, war in Rauch aufgegangen. Wir stellen fest, dass alle Sicherheitsmechanismen versagt hatten, weil zwei Lötbrücken genau an den kritischen Stellen waren. "Da war wohl Drahtlos am Werk", meinte mein Kollege.

In unserer Abteilung arbeiten wir mit vier Ingenieuren in der Entwicklung, bei der Produktionseinrichtung und an der Qualitätssicherung in einem großen Werk für Industrieelektronik mit einem Schwerpunkt im Bereich Schaltnetzteile. Qualitätssicherung heißt, dass wir all die Geräte unter die Lupe nehmen, die im Funktionstest durchfallen. Oft finden sich unbedeutende und zufällige Fehler wie z.B. defekte Bauteile. Die Fehlerdiagnose wird durch eine ordentliche Reparatur bestätigt, wonach die Geräte wieder in die Produktion gehen. Kostet ja nichts, so eine Ingenieurstunde, da lohnt es sich schon, wenn die Produktionsausbeute um ein Prozent gesteigert werden kann. In letzter Zeit ist jedenfalls der Arbeitsdruck stark gestiegen, wir arbeiten wesentlich mehr für das gleiche Gehalt.
Die Situation im Labor bringt es mit sich, dass die Arbeit sich stapelt. Es ist einfach nicht mehr alles zu schaffen. Manchmal weiß man am Morgen gar nicht, wo man anfangen soll. Um so erfreulicher ist es dann, wenn man plötzlich entdeckt, dass eine Arbeit schon erledigt ist, von der man glaubte, man hätte sie noch vor sich. Es begann vor einem Jahr, dass ich das deutliche Gefühl hatte, dass jemand mir heimlich hilft. Eines Morgens kam ich mal eine Viertelstunde früher. Da konnte ich sehen, wie jemand aus dem Labor huschte. Wieder war einiges in der Nacht fertig geworden. Und trotzdem war die Arbeit nicht zu schaffen. Es war vor allem die aufwendige Fehlersuche, die zu viel Zeit kostete. Am Ende war vielleicht nur ein Widerstand defekt, Kostenpunkt ein Pfennig. Aber die Suche konnte mehr als eine Stunde dauern.
In unserem Labor gibt es acht Arbeitsplätze, aber nur vier sind besetzt. Die Firmenleitung war der Meinung, das reicht. Der freie Platz wird jetzt für unerledigte Arbeiten gebraucht. Eines Tages war ich mal wieder bei der verzweifelten Fehlersuche. Ich muss sagen, der Zustand der dauernden Überarbeitung macht einen nicht gerade kreativer. Da kann man sich schon mal länger im Kreis drehen. Aber plötzlich hielt mir jemand den Tastkopf des Oszilloskops an eine Stelle der Platine, auf die ich noch nicht gekommen war. Das Oszillogramm sprach eine klare Sprache. Der Fehler war schnell gefunden. Ich wollte mich bei meinem Kollegen bedanken, da bemerkte ich, dass ein Neuer neben mir auf dem freien Platz saß. Es war Dietrich Drahtlos.
Von da an half Drahtlos mir fast jeden Tag. Es ging mir wesentlich besser, die Arbeit wurde leichter, ich schaffte praktisch das Doppelte. Am Anfang beschränkte er sich darauf, mir neue Wege bei der Fehlersuche vorzuschlagen. Später übernahm er viele Arbeiten ganz. Bei Neuentwicklungen wies er mich frühzeitig auf mögliche Probleme hin. Messprotokolle und Versuchsserien führte er oft allein durch, meist in der Nacht. Die Verdopplung meiner Schaffenskraft blieb natürlich nicht unbemerkt. Mit den Kollegen sprach ich oft darüber. Sie wussten, dass Drahtlos mir half. Sie schienen am Anfang irgendwie belustigt, nahmen es dann aber ganz natürlich hin. Irgendwelche Missgunst oder andere ungute Gefühle konnte ich nicht erkennen.
Eines Tages besuchte uns unser Chef im Labor. Er kam an meinen Platz und schaute mir einen Moment zu. "Mensch Strohm, arbeiten Sie sich bloß nicht kaputt! Wir brauchen Sie noch." Du Arsch, dachte ich, wer ist denn wohl dafür verantwortlich, dass hier jeder für Zwei arbeiten muss? Vor drei Jahren gab es hier noch acht Ingenieure und die Arbeit lief einigermaßen normal. Dann musste die Firma ja unbedingt an die Börse. Für den Börsengang wurde sie erst mal fit gemacht, das bedeutet, zwei Mann aus unserer Abteilung mussten gehen. Zuerst lief auch alles prima, die Kurse stiegen und die Sektkorken knallten. Aber dann ging die Börse in den Keller und noch zwei Mann mussten gehen. Wirtschaftlich stehen wir jetzt nicht besser da als vor drei Jahren. Wir sind nur abhängiger geworden und arbeiten wesentlich mehr. Ohne Drahtlos ist die Arbeit schon lange nicht mehr zu schaffen. Aber davon sagte ich dem großen Boss nichts. Ich hatte sowieso meine Zweifel, dass sie unseren fünften Mann ordentlich bezahlten.
Alle zwei Jahre gibt es bei uns eine Untersuchung beim Werksarzt. Er stellte bei mir gewisse Symptome von Überarbeitung fest. Irgendwie fing er dann mit Drahtlos an und meinte, das wäre ein schlechtes Zeichen. "Wieso", sagte ich, "Drahtlos ist doch ein Ingenieur wie jeder andere auch." "Mit dem kleinen Unterschied", antwortete er, "dass keiner außer Ihnen ihn sehen kann." Das traf mich hart. Drahtlos unsichtbar? Das hätten die Kollegen mir auch sagen können!
Die Sache brachte mir eine Kur von acht Wochen ein. In der Zeit habe ich mich wirklich gut erholt. Schon nach drei Tagen fielen alle Gedanken an irgendwelche Schaltnetzteile von mir ab. Nur an Drahtlos dachte ich noch manchmal. Ich kam in dieser Zeit zu dem Schluss, dass er mal wieder Pech mit irgendeinem Experiment gehabt haben muss, mit dem Ergebnis, dass er jetzt nicht mehr zu sehen war.
Als ich nach acht Wochen völlig erholt und mit frischen Kräften in die Firma kam, war Drahtlos schon da. Er freute sich anscheinend, mich wieder zu sehen und wirkte mir freundlich zu. Ich bemerkte, dass er gerade dabei war, meinem Kollegen zu helfen. Na klar, dachte ich, acht Wochen lang mussten sie jetzt mit drei Leuten klar kommen. Ohne Drahtlos hätten sie das nie geschafft.
Ich begann wieder mit meiner Arbeit. Drahtlos half jetzt mir und meinem Kollegen abwechselnd. Gleich am ersten Tag gab es einen schwierigen Fall, der dringend die Hilfe des Ingenieurs Drahtlos erforderte. Mein Kollege lehnte sich frustriert zurück, während Drahtlos voller Eifer irgendwelche Messungen machte. Mein Kollege schaute zu mir herüber. Wir sahen uns lange an. Ganz ohne Worte schlossen wir dann eine Vereinbarung:

Drahtlos hilft von jetzt an uns beiden, aber wir werden nicht drüber sprechen!

Eigentlich schade, denn so werde ich nie erfahren, ob er in letzter Zeit auch schon woanders aufgetaucht ist.

(Hinweis des Herausgebers: Zur Vermeidung beruflicher Nachteile schreibt Ing. Strohm unter Pseudonym.)



Flugangst (Schuld war Drahtlos)
Der plötzliche Abschied des Doktoranden Drahtlos
Quarzstrahlung (von Drahtlos selbst)
Damals, als der Sinterofen platzte... (von Nelli C.)