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(c) P.Copper, Drahtlos

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6.2 Von Nelli gepackt

Sie war zweimal verheiratet. "Der erste Versuch ist meist nicht genuch". Sie wurde sehr nachdenklich. "Der zweite auch nicht", fügte sie traurig hinzu. Ihr erster Mann war so eine Art Erfolgstyp. Sie sollte unbedingt zu Hause bleiben, aber mit den Kindern wollte er noch etwas warten. Dann gab es beruflich irgendwelchen Stress, und er beschwerte sich, er würde sich den ganzen Tag den Arsch aufreißen und sie säße faul zu Hause rum. Eine Zeit lang hat sie das ausgehalten, dann ist sie abgehauen. Ihren zweiten Mann hatte sie ganz bewusst ausgesucht. Er wollte zu Hause bleiben und nebenbei irgendwelche Bücher schreiben. Und sie ging arbeiten. Sie hatte damals ihre erste Stelle als Ingenieurin und musste sehr viel arbeiten, jede Menge Überstunden. Ihr zweiter Mann hat das irgendwie nicht so gut verkraftet und ist dem Alkohol verfallen. Deshalb ist er dann ja auch verunglückt. Er wollte wohl im Suff von einer Brücke pinkeln und ist dabei leider abgestürzt. Ich überlegte, ob es wohl passend wäre, mein Beileid auszudrücken und suchte noch nach den richtigen Worten. Sie aber war schon wieder beim Thema Drahtlos.

"Ich habe Didi nie richtig gesucht, sondern immer nur auf den großen Zufall gehofft. Als er weg musste, war ich erst 19. Wir hätten ja noch so viel Zeit gehabt. Hätte ich ihn zwei Jahre später noch mal getroffen, dann hätte ich ihn mir einfach gepackt." Das Wort "packen" gerade in diesem Zusammenhang rief bei mir eher unangenehme Empfindungen hervor, weil es nicht zu meinen kaum von realen Erfahrungen geprägten Vorstellungen von Romantik passte. Ich überspielte es aber geschickt, indem ich ganz allgemein sagte: "Man kann ja nie wissen, wie alles gekommen wäre. Ich hätte mich an Drahtlos´ Stelle aber sicher sehr darüber gefreut." Ob sie denn glaube, dass sie die Sache mit den Blitzversuchen hätte verhindern können. "Natürlich!", sagte sie einfach nur. Wie konnte sie nur so sicher sein, fragte ich mich. Dann sah ich sie sehr lange und sehr aufmerksam an. Als ich von ihr in den schwarzen Kladden las, hatte ich immer gedacht, sie wäre klein und zierlich. Aber jetzt sah ich sie ganz anders. Sie war groß und kräftig. Auch damals muss sie schon groß gewesen sein. Aber war sie lang und dünn oder eher so wie heute? Und plötzlich war mir völlig klar, wie alles gekommen wäre.
Sie hätte Drahtlos an die Hand genommen, wäre mit ihm in die Scheune gegangen und hätte gesagt: "Didi, du kannst gar nicht verhindern, dass hier irgendwann einmal im falschem Augenblick eine Eule auf den Isolator scheißt. Und wo bleibst du dann mit deinen fünfhunderttausend Volt? Also lass es!" und er hätte es gelassen. Und dann hätten sie gemeinsam die Wasserberg-Seilbahn besucht. Sie hätten sich mit den Betreibern zusammengesetzt, und sie hätte vorgeschlagen: "Der Fahrpreis wird auf zwölf Mark erhöht, aber die Toiletten sind frei." Alle hätten es sofort eingesehen. "Und die Kleckerei hört auch auf! Sonst rosten euch eines Tages noch die Ständer ab." Die Männer hätten auch das sofort verstanden. Und sie hätten ein paar hundert Mark investiert, um die Tanks abzudichten. Das ganze hätte sich schon nach einem Jahr bezahlt gemacht, weil der Drahtlosgenerator entsprechend mehr Energie geliefert hätte. Sie hätten heute noch zusammen im Schwarzwald gelebt, und auch alle anderen Katastrophen wären ausgeblieben. War es vielleicht das, wovor Drahtlos Angst hatte? Brauchte er seine Katastrophen, wie andere Menschen die Luft zum Atmen?
Während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, hatte auch sie mich angesehen, ohne einmal den Blick zu wenden. Was sie dabei dachte, weiß ich nicht. Aber dann fragte sie mich: "Bist du zu einem Urteil gelangt? Wäre alles gut geworden?" Ich antwortete: "Du hättest alle Katastrophen verhindert. Aber Didi wäre nicht glücklich geworden. Du hättest ihn zwingen müssen, erwachsen zu werden. Und daran wäre er wohl zerbrochen." Sie dachte einen Augenblick nach und sagte dann: "Das Gefühl hatte ich schon damals. Gut, die Sache mit der Apfelerntemaschine hätte jedem passieren können. Aber all die anderen kleinen Katastrophen? Er war wie ein kleiner Junge, der Türme baut, um sie dann wieder einkrachen zu lassen. Deshalb war er ja auch der ideale Entwickler für unsere brennenden Verstärker. Kein anderer hätte es geschafft, dass sie so zielgenau in Flammen aufgingen. Manchmal hatte ich den Eindruck, es machte ihn richtig glücklich, diese wichtige Aufgabe zu übernehmen. Immer wenn wieder ein Verstärker fertig war, sagte er in seiner schüchternen Art: Des Ingenieurs Devise, schnell und präzise. Er wurde rot dabei und sah immer haarscharf an mir vorbei. Deshalb hatte ich nicht ein einziges Mal eine Chance, ihm so zu danken, wie es angemessen gewesen wäre." Es hätte mich zwar auch interessiert, aber ich verkniff mir die Frage, wie der angemessene Dank ausgesehen hätte.
Nun öffnete sie die zweite Flasche. Ich äußerte meine Sorge bezüglich meiner Fahrtauglichkeit. Ganz still für mich dachte ich aber, wie wird das hier enden, soll ich etwa für Versäumnisse geradestehen, die dem Ingenieur vor mehr als zwanzig Jahren unterlaufen sind? Irgendwann muss doch einmal Schluss sein mit diesen verspäteten Katastrophen! Andererseits hatte ich noch einen dringenden Wunsch. Ich wollte unbedingt wissen, was die Heißen Röhren damals gesungen haben. Sie meinte, das mit der Verkehrstüchtigkeit sein kein Problem, ich könne ja auf dem Sofa schlafen. Das zerstreute meine Bedenken und ich sagte: "Aber nur, wenn du mir wenigstens ein einziges Lied der Heißen Röhren vorsingst." Sie wollte nicht, die Scheiß-Kühlschränke hätten ihr das Gehör versaut, seitdem könne sie auch nicht mehr singen. Aber der Alkohol löst ja bekanntlich alle Hemmungen. Deshalb bekam ich dann später doch noch mein Lied. Es war wunderschön! Wirklich schade, dass sie damals keine Platte aufgenommen haben.
Am nächsten Morgen wusste ich dann auch, was sie damit gemeint hatte, als sie sagte, sie hätte sich Drahtlos einfach packen sollen. So wie sie ihn beschrieben hatte, konnte ich mir vorstellen, dass ihm das auch Angst gemacht hätte. Ich wusste allerdings nicht, ob sie damals schon so kräftig war. Drahtlos hat ja nie jemanden beschrieben, in seinen Kladden. Vielleicht, weil er nie richtig hingesehen hat. Außer auf seinen Oszillographenschirm. Ich habe Zeichnungen von Oszillogrammen gesehen, die waren zehnmal genauer als jedes Foto. Jedenfalls wusste ich nicht, wie Nelli aussah. War sie ganz dünn, oder war sie auch damals schon so schön und stark wie heute? Obwohl ich nicht viel von Frauen verstand, vermutete ich, es wäre vielleicht nicht passend, sie direkt danach zu fragen. Vielleicht würde sie mir ja irgendwann einmal Fotos aus der Zeit zeigen. Nelli schlief noch, sie lag neben mir auf dem umgeklappten Sofa und hatte ein Siegerlächeln um den Mund.


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