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(c) P.Copper, Drahtlos

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5.4 Das Ende einer Seilbahn

Nachdem ich das Blitzdorf verlassen hatte, tat ich etwas, was ich schon seit Jahren immer wieder aufgeschoben hatte: Ich machte mich auf die Suche nach der Seilbahn, die Drahtlos im Schwarzwald gebaut hatte. Genauere Angaben gab es nicht, ich musste nach der Straßenkarte suchen und besah mir 14 Seilbahnen, bis ich die richtige fand. Dass ich am Ziel war, konnte ich weniger sehen als hören. In das Quietschen der Seilräder mischte sich ein Plätschern von Wasser. Am Eingang der Talstation hing ein Schild: 25 Jahre Wasserberg-Seilbahn. Ich sah mir die Sache eine ganze Stunde lang sorgfältig an. Alle Gondeln hatten einen Wassertank, der kurz vor der Einfahrt in die Talstation automatisch entleert wurde. Das Wasser floss dann in einen kleinen Bach ab. Alles war gut durchdacht und machte einen sehr soliden Eindruck. Ich konnte keinen Grund erkennen, der dagegen sprach, mich diesem Gefährt anzuvertrauen. Ich bezahlte also 10 DM für Berg- und Talfahrt und steig ein.

Ich hatte eine Gondel für mich allein. Die Sonne schien, kein Lüftchen rührte sich. Man hörte nur das leise Quietschen der Räder, das plätschernde Geräusch von Wasser, immer wenn eine Gondel auf der anderen Seite talwärts schwebte, und das Zwitschern von Vögeln. Von den Gondeln auf der anderen Seite tropfte dauernd etwas Wasser hinunter. Das war wohl der Grund dafür, dass sich ein grüner Streifen etwa 20 Meter links und rechts der Seilbahn erstreckte. Es gab eine scharfe Grenze zu dem struppigen und offenbar staubtrockenen Gelände des Hangs. Tief unter der Bahn konnte ich sogar kleine Tümpel erkennen, an denen Frösche saßen. Das ganze kam mir vor wie die ideale Verbindung von Natur und Technik. Ich verspürte zum ersten mal seit langem so etwas wie die vollkommene Entspannung. Ich schloss die Augen und ließ die Sonne auf mein Gesicht fallen. Die Zeit schien stehen zu bleiben. Ich weiß nicht, ob die Fahrt zehn Minuten oder zehn Stunden dauerte. Bei der Ankunft an der Bergstation war ich so etwas wie ein neuer Mensch, befreit von allen Sorgen und völlig glücklich.
Nur ein Problem brachte mich auf den Boden zurück: Das dauernde Plätschern hatte bewirkt, dass ich dringend eine Toilette benötigte. Es gab auch eine, aber man musste 2 DM einwerfen. Ich hatte nur zwei einzelne Markstücke. Der Angestellte der Seilbahn konnte mir aushelfen, er hatte einen riesigen Vorrat an Zweimarkstücken. Nach dem dringenden Besuch der Toilette kam ich mit dem Mann ins Gespräch. Er arbeitete erst seit einem Jahr dort, kannte aber die Anlage und alle technischen Daten sehr genau. Das besondere sei der sogenannte Drahtlosgenerator in der Talstation. Energie gelange drahtlos, genauer gesagt ohne elektrische Leitungen, mit Hilfe der Wassertanks hinunter. Bei genauer Betrachtung müsse man allerdings feststellen, dass die Energie letztlich über die Drahtseile übertragen werde. Er hätte daher eher den Namen "Kupferfrei" gewählt. Andererseits sei auch der Name Kupferfrei-Generator missverständlich, weil natürlich der Generator selbst Kupferwicklungen enthalte. Gänzlich unverfänglich sei dagegen die Bezeichnung Wasserberg-Generator. Dieser Generator jedenfalls arbeite effektiv als Bremse und sorge für die gleichmäßige Geschwindigkeit. Ganz egal, ob mit oder ohne Fahrgäste, immer werde Energie in das öffentliche Stromnetz abgegeben, insgesamt 40 Megawattstunden pro Jahr. Leute, die hochfahren, verbrauchen zwar etwas Energie, bei der Abfahrt würde jedoch fast der gleiche Betrag wieder frei, außer in den Fällen, wo jemand zwar hinauf fährt, dann aber den Fußweg entlang der Seilbahn für den Abstieg wählt. Das tue aber jeder nur einmal, weil man dann völlig nassgeregnet unten ankomme. Auch das trage zur finanziellen Rentabilität der Seilbahn bei. Und die Toiletten, sagte ich, aber er schien mich nicht zu verstehen.
Wir sprachen dann noch über die Sicherheit der Anlage. Was passiert, wenn oben das Wasser ausbleibt? Kein Problem, dann arbeitet der Drahtlosgenerator eben ausnahmsweise mal als Motor. Und wenn im Tal die elektrische Leitung getrennt wird und der Generator frei läuft? Auch dann kann nichts passieren, nicht einmal wenn alles Personal ausfällt. Dann tritt nämlich eine vollautomatische Wirbelstrombremse in Aktion, die für die dreifache Spitzenleistung ausgelegt sei. Stimmt, dachte ich, Drahtlos hat das mehrfach in seinen Kladden durchgerechnet. Bliebe noch die Frage nach den Drahtseilen. Alles dreifach ausgelegt und zweimal im Jahr vom Technischen Überwachungsverein geprüft, prahlte der Mann. Die ganze Sache schien mir immer noch völlig wasserdicht, abgesehen von den Tanks. Die Seilbahn war zweifellos die technische Spitzenleistung des Ingenieurs Dietrich Drahtlos. Alle Selbstzweifel, die ihn geplagt hatten, waren völlig unbegründet. Mit einem wirklich beruhigten Gefühl entschloss ich mich daher zur Talfahrt.
Diesmal teilte ich die Kabine mit einem älteren Ehepaar, offensichtlich mit mir die einzigen Gäste am Berg. Als wir abfuhren, änderte sich das Wetter. Unten im Tal bildeten sich Nebelwolken. Es sah wunderschön aus, wie sie von oben von der sich neigenden Sonne beschienen wurden. Wenig später steckten wir selbst im Nebel. Die Stimmung änderte sich. Jede Orientierung hörte auf, man sah nur noch den Nebel. Die Höhe über dem Hang oder die verbleibende Strecke bis unten, alles war nur noch zu raten. Die älteren Leute sahen besorgt aus und sprachen kein Wort. Plötzlich gab es einen heftigen Ruck, und die Bahn stand still. Alle wurden bleich. Die Angst würgte uns. Bis auf das nervige Plätschern war nichts mehr zu hören. Nach einer schier endlos langen Zeit, es könnte eine Minute gewesen sein, gab es einen neuen Ruck und ein fürchterliches Geräusch, eine Art Knirschen oder Ächzen, irgendwie das Geräusch von berstendem Stahl oder Beton, jedenfalls kurz gesagt ein Geräusch, das ich niemandem wünsche, der gerade in einer Seilbahn sitzt. Außerdem kam es mir vor, als hätte sich die Kabine um einige Zentimeter gesenkt.
Jetzt ist es soweit, dachte ich, jetzt hat Drahtlos mich doch noch erwischt. Dabei wusste ich doch, was ich tat! Warum nur bin ich jemals in diese drahtlose Teufelsmaschine gestiegen! Wer die Gefahr sucht, kommt darin um! Wie konnte ich nur davon ausgehen, dass die Anlage sicher sei! Das zentrale Problem wird sowieso meist übersehn! Im Würgegriff solcher Gedanken verging die Zeit, bis ein neuer Ruck die Bahn wieder in Bewegung setzte. Wir alle wagten nicht mehr zu atmen und hielten die Luft an, bis wir völlig blau im Gesicht unten ankamen. Dann stürmten wir aus der Kabine in Richtung Taltoiletten. Auf dem Weg dorthin fragte ich atemlos einen der Angestellten, warum die Bahn denn angehalten habe. Er sah verstört aus, sagte aber nur: "Kleine technische Panne, alles voll im Griff." Dieser kurze Wortwechsel hatte den älteren Leuten einen geringen Vorsprung verschafft, so dass ich vor verschlossener Toilettentür stand.
Das Problem wurde dringend. Der Nebel, das fürchterliche Plätschern und dazu die Angst waren mir auf die Blase geschlagen. Ich stürmte daher hinaus um mich am untersten Mast der Bahn zu erleichtern. Ich möchte aber an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass ich mich in keiner Weise für das Unglück verantwortlich fühle, das dann geschah. Als ich nämlich gerade mein Werk zur Hälfte vollendet hatte, gab es einen unbeschreiblichen Knall. Ich sprang zurück und flüchtete instinktiv ins Gelände. Da sah ich durch den Nebel mit blankem Entsetzen, wie der Mast sich neigte und auf die Talstation stürzte. Knapp neben mir schlug eine Gondel ein. Eine Wasserfontäne riss mich zu Boden. Im selben Moment schossen mir zwei tröstliche Gedanken durch den Kopf: Von oben kann jetzt nichts mehr kommen, und niemand sieht mehr, dass ich mir gerade ans Bein gepinkelt habe. Von weiter oben hörte ich in kurzen Abständen weitere Gondeln aufschlagen. Ich lag noch am Boden, als eine Lawine aus Schlamm und Geröll den Hang hinabstürzte und mich völlig begrub. Wie ein Schwein musste ich mich aus dem Matsch wühlen. Ich torkelte hinunter und traf dort auf die beiden alten Leute und zwei Angestellte der Seilbahn, die zitternd vor den Trümmern der Talstation standen. Als sie mich sahen, wichen sie zurück. Die Frau stieß einen gellenden Schrei aus und brach ohnmächtig zusammen.
Am nächsten Tag wollte ich den Ort des Unglücks noch einmal bei Licht besehen. Die Stelle war zwar schon mit weißroten Plastikbändern eingezäunt, ich konnte aber genug sehen, um die Ursache des Unglücks zu erkennen. Die vier Träger des Mastes steckten noch im Beton, aber nur etwa 20 Zentimeter tief. Etwa in Bodenhöhe waren die Betonfundamente gerissen, die eingebetteten Stahlträger durchgerostet. Mehr als 25 Jahre lang stand alles im Dauerregen. Der Mast wurde zwar immer wieder angestrichen, aber was im nassen Beton geschah, konnte niemand sehen. Hitze und Frost taten ein übriges. Gerade am untersten Mast kam auch noch ein weiteres Problem hinzu. Eine intensive Gelbfärbung des Betons wies darauf hin, dass ich nicht der einzige war, der den Mast zweckentfremdet hatte. Das Plätschern, die teuren Toiletten, wahrscheinlich hatten ganze Kegelklubs sich an dem Mast vergangen. Nach meiner vorsichtigen Schätzung wurde er während seiner Standzeit vielleicht 10 000 mal angepinkelt, beim letzen Mal von mir selbst. Das zentrale Problem wird eben leicht übersehn.


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